All diejenigen von uns, die in einer ländlichen Umgebung aufgewachsen sind, würden sicher bestätigen, dass die Landschaften unserer Heimat einen ganz besonderen Platz im Herzen einnehmen. Den Feldern und Wäldern, die du stundenlang als Kind durchstreift hast, wohnt eine Magie inne. Das empfinden jedenfalls die russische Fotografin
Turkina Faso und ihre Schwester Alice so, die in einer Kleinstadt inmitten der Ausläufer des nördlichen Kaukasus-Gebirges aufwuchsen, umgeben von wunderschöner Wildnis, soweit das Auge reicht, im Schatten dramatischer Berggipfel.
Faso ist deutlich
älter als ihre Schwester – so sehr, dass sie bereits fürs Studium wegzog, als Alice noch zwei Jahre alt war. Sie waren also beide am selben Ort aufgewachsen, einem Zuhause, das sie grundlegend miteinander verband, und doch durch eine ganze Kindheit voneinander getrennt. „
Unser beider Kindheit war voller Liebe , umgeben von der Natur und mit jeder Menge Freiheit“, erzählt Faso. „Uns wurde beiden vermittelt, dass wir selbst in den schlichtesten Dingen eine ganz eigene Magie entdecken konnten. Unsere Beziehung entwickelte sich aber aus der Distanz; das machte es schwer.“
Weil sie sich fragte, wie sie diese emotionale Lücke zwischen ihnen überbrücken sollte, versuchte es Faso mit der Fotografie – und fing an, Alice zu fotografieren. „Dadurch kamen wir uns im Alltag direkt ein bisschen näher. Uns verband plötzlich etwas, und es gab uns einen Grund, gemeinsame Zeit an diesem Ort zu verbringen, der uns beiden so wichtig war. Wir spielten mit Ideen für Fotos herum und hatten einfach Spaß zusammen.“
Faso fotografiert Alice seit mittlerweile zehn Jahren regelmäßig. Einige ihrer Fotos sehen aus wie Schnappschüsse; als hätte sie ihre Schwester bei etwas erwischt. Andere ähneln eher eleganten Fashion-Editorials, zweifellos inspiriert von Fasos kürzlicher Ausbildung zur Modefotografin am London College of Fashion. Heute lebt Faso in London und arbeitet als Fotografin für Brands und Magazine wie Bvlgari,
Dazed und
Vogue. Hier erzählt sie uns, wie sie es schafft, in ihren Bildern
das Gefühl der Schwesternschaft sowie die Schönheit und Spannungen der weiblichen Jugend festzuhalten – und spricht über die
Zusammenarbeit mit ihrer Schwester , die sie zu der Person machte, die sie heute ist.
Faso fing an, ihre Schwester zu fotografieren, wann immer sie aus der Uni nach Hause zurückkehrte. „Ich war noch jugendlich, sie noch ein sehr kleines Kind, und wir konnten eben nicht ‚normal‘ miteinander interagieren. Wir wollten zusammen Zeit verbringen, hatten aber Probleme, gemeinsame Interessen zu finden. Die Fotografie wurde für uns zu einer Art Brücke – etwas, das wir zusammen machen konnten, etwas, das wir gemeinsam hatten.“ Sie sagt, dass ihr direkt klar wurde, dass Alice ein Naturtalent fürs Modeln hat. „Als sie erst zwei Jahre alt war, knipste mein Freund auch mal ein paar Fotos von ihr, und wir waren total begeistert davon, wie sehr sie sich auf die Kamera konzentrierte, mit diesem intensiven Gesichtsausdruck. Ich war mir direkt sicher, dass sie das im Blut hat. Und ich war einfach immer da, um diese Entwicklung festzuhalten.“Foto: Turkina Faso. Was Faso mitunter am interessantesten daran findet, ihre Schwester zu fotografieren, ist die Entwicklung ihrer beider Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Laufe der Jahre. „Als Teenagerin liebte ich es, mit meinen Freund:innen auszugehen, mich zu verabreden, rumzurennen, Alkohol zu trinken und generell einfach ein bisschen verrückt zu sein. Ich war zu schnell und zu viel – es war, als hätte ich es eilig damit, alles so schnell wie möglich zu machen und zu sehen“, erinnert sich Faso. „Alice ist da anders. Sie ist fokussierter und kennt ihre Ziele, zumindest jetzt gerade. Sie hat schon alleine als Model in Moskau gearbeitet und studiert an der Uni. Das Level an Verantwortungsbewusstsein, das sie in ihrem Alter schon hat, ist viel stärker ausgeprägt als bei mir damals. In mancher Hinsicht lässt sich das über ihre ganze Generation sagen, finde ich.“ Sie beschreibt ihre Fotoshootings als ein Zusammentreffen einer spontanen und einer eher beständigen Person, die gemeinsam etwas Wunderschönes erschaffen.Foto: Turkina Faso. Obwohl die beiden zu unterschiedlichen Zeiten aufwuchsen, wurde die Landschaft rund um ihr gemeinsames Zuhause für sie beiden zum Spielplatz der endlosen Möglichkeiten. Fasos Fotos fangen dieses Gefühl sehr gut ein; oft ist ihre Schwester darauf in Blumenfeldern oder Flüssen zu sehen, die sie beide im Laufe der Jahre gemeinsam erkundet haben. „Es ging mir dabei darum, die vergehende Zeit festzuhalten – die Erinnerungen, die Nostalgie , das Erbe unserer Familie an diesem Ort“, erklärt sie. „Ich wollte Momente der Verwandlung verewigen und mich selbst daran zurückerinnern, wie ich in Alice’ Alter war, und mir wiederum auch sie in meinem Alter vorstellen.“Foto: Turkina Faso. Die Fotos von Alice fallen irgendwo zwischen die Kategorien der Film-Standfotos, Doku-Schnappschüsse und Fashion-Editorials. „Als ich die ersten Bilder [der Reihe] aufnahm, wurde mir klar, dass ich eine Leidenschaft für magischen Realismus hatte“, sagt sie. „Die Fotos sind schlicht, werfen aber in kleinen Details auch ein neues Licht auf die Realität. Ich fotografiere ganz alltägliche Objekte oder Szenen, zeige sie aber aus einer neuen Perspektive. Ich liebe außerdem Mode. Das fließt oft darin ein, wie wir die Fotos zusammen in Szene setzen.“ Faso hat ihre Schwester inzwischen auch für ihre professionelle Arbeit als Model vor die Kamera geholt.Foto: Turkina Faso. Diese magische, mystische Stimmung, von der Faso spricht, zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk. Oft sind überirdisch wirkende Lichter zu sehen, oder Pferde, die auf Blumenwiesen grasen. Manchmal trägt Alice ein rotes Cape oder hält Rosen in der Hand – Symbolik, die stark an Märchen erinnert. Faso erzählt, dass sie sich zum Teil von hiesigen Legenden und Folklore-Erzählungen inspirieren ließ, die beide schon in der Kindheit zu hören bekamen, sowie von der persönlichen Familiengeschichte, die sie verbindet. „Einige Fotos basieren auf individuellen oder geteilten Erinnerungen an unsere Großmutter, und wir beziehen uns mithilfe einiger Details in den Fotos auf sie. Die Farbe Rot verbinden wir mit ihr, zum Beispiel.“Foto: Turkina Faso. Faso richtet unsere Aufmerksamkeit auf andere Fotos, in denen dieses strahlende Rot auftaucht – wie einem Foto eines scharlachroten Capes, das über das Gras flattert und den Geist ihrer Großmutter symbolisieren soll. Anderswo finden wir es in Alice’ Kleidung wieder, oder in den Objekten, die sie hält, oder in der Farbe in ihrem Gesicht.Foto: Turkina Faso. Auf die Frage hin, wie sie ihre Ideen entwickelt und in die Tat umsetzt, antwortet Faso: „Ich habe meine Shootings schon immer gerne im Voraus geplant. Ich liebe es, Zeichnungen zu machen, Voice Memos aufzunehmen, mir Ideen aufzuschreiben und Moodboards zu erstellen. Ich nenne das ‚Fake-Dokumentation‘, weil ich zwar meine Erinnerungen dokumentiere, sie aber in einer Art Parallelrealität leben, weil sie zum Teil konstruiert sind.“ Auch die Dynamik zwischen Fotografin und Model hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt, während Alice älter wurde. „Meine Arbeit mit Alice wurde immer mehr zur Kollaboration, als sie so 13 oder 14 Jahre alt war. Vorher posierte sie nur für mich und hatte Spaß mit mir. Heute arbeiten wir ein bisschen anders. Wir planen unsere Projekte gemeinsam.“Foto: Turkina Faso. Trotzdem bleibt immer noch viel Freiraum für Spontaneität, und manchmal fotografiert Faso ihre Schwester auch einfach aus diversen Perspektiven, um zu sehen, wie das Licht auf ihr Gesicht fällt, wie ihr Körper aus dieser oder jener Position aussieht oder wie sich ein natürlicher Moment zwischen ihnen beiden auf einem Foto widerspiegeln würde. Einige ihrer eindrucksvollsten Bilder sind Kopf-Porträts von Alice, die direkt in die Linse starrt.Foto: Turkina Faso. Faso zufolge sind ihre Hauptthemen „Erinnerungen, Nostalgie und die Erkundung der Realität“. Einige ihrer Fotos von Alice erzählen ganze Geschichten – dieses zum Beispiel, auf dem Alice aussieht wie ein Charakter aus einem Psycho-Horrorfilm, und so anders als auf einigen anderen Bildern, auf denen sie verspielt für die Kamera lacht.Foto: Turkina Faso. Die Zeit der weiblichen Jugend findet Faso besonders faszinierend. Sie kann dabei zusehen, wie ihre Schwester am selben Ort aufwächst, an dem auch sie ihre Kindheit hinter sich ließ, und beide Erfahrungen miteinander vergleichen. „Ich interessiere mich vor allem für den Übergang zwischen Mädchen- und Frausein , diese unsichere Phase, in der du weder Kind noch erwachsen bist und während der dir ganze Universen im Kopf herumschwirren, wenn du der Zukunft entgegenblickst. Alles verändert sich. Dein Körper verändert sich. Du hast Zweifel und Träume, die du noch nicht verarbeitet hast“, sagt sie. „Ich empfinde es als Privileg, einen Teil dieser Erfahrung in Alice festzuhalten, während sie älter wird.“Foto: Turkina Faso. Auf die Frage nach ihrem Lieblingsbild nennt Faso dieses hier. „Das ist Alice im blauen Wasser unseres örtlichen Schwimmbads. Wir haben beide während unserer Kindheit so viel Zeit hier verbracht, und wir verbinden beide zahlreiche schöne Familienerinnerungen mit diesem Ort.“ Alice’ Gesicht ist hier fast schon filmisch beleuchtet, während das Wasser um sie herum glitzert. Es ist ein weiteres dieser Bilder, das eine ganze Geschichte zu erzählen scheint.Foto: Turkina Faso. Es ist jetzt mehr als zehn Jahre her, seit Faso damit anfing, ihre Schwester zu fotografieren, und ihr zufolge brachten diese Bilder die beiden einander näher, als es ansonsten möglich gewesen wäre. „Das ist im Laufe der Jahre quasi unser Freundschafts-Werkzeug gewesen. Wir haben uns beide weiterentwickelt, aber das hat uns zusammengehalten.“ Faso kann sich nicht vorstellen, die Zusammenarbeit mit ihrer Schwester in nächster Zeit zu beenden. Sie machen bis heute fast jeden Monat gemeinsame Shootings. Jedes Mal, wenn sie sich treffen – inzwischen beide als junge Frauen –, rennen sie immer noch gemeinsam durch die Landschaft, in der sie zu unterschiedlichen Zeiten aufwuchsen, besprechen ihre Ideen für neue Fotos und spielen miteinander – sowohl vor als auch hinter der Kamera.Foto: Turkina Faso. Like what you see? How about some more R29 goodness, right here?
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